Eine Reliquie und Flüche auf Latein ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌  ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌  ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌  ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌  ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌ ‌
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WissenAmFreitag #104 – 28/06/2024
Foto: Universität Innsbruck 
 
Eine Reliquie und Flüche auf Latein 
 
Guten Tag! 
 
Es ist das Jahr 550 nach Christus. Sie sind Römerin oder Römer, oder wohnen zumindest im Römischen Reich, und zwar im Drautal im heutigen Kärnten. Konkret leben Sie auf dem Burgbichl in der heutigen Gemeinde Irschen, in einer Siedlung, deren Namen wir heute nicht mehr kennen und die gegründet wurde, weil die Zeiten allgemein rauer geworden sind: Der Bichl, also der Hügel, lässt sich leichter gegen Angreifer verteidigen, und dass Sie und Ihre Mitbürger:innen das für notwendig erachtet haben, lässt sich heute noch an einer dicken Verteidigungsmauer um die Siedlung nachvollziehen. 
 
Jedenfalls, es ist das Jahr 550 nach Christus und in Ihrer Siedlung in der heutigen Gemeinde Irschen stehen Sie in einer der beiden Kirchen des Dorfs und hantieren mit einer aus dem Stoßzahn eines Elefanten gefertigten Dose, reich verziert mit Schnitzereien, die Szenen aus der Bibel zeigen. Vielleicht sind Sie Priester, vielleicht gehören Sie der örtlichen Oberschicht an – wir wissen es heute nicht mehr und auch nicht, ob Sie allein in der Kirche sind oder nicht und ebenfalls unbekannt ist uns, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind. Die Elfenbeindose enthält das Heiligste, das die Kirche zu bieten hat: Die Reliquie eines Heiligen, also ein Stück Knochen, vielleicht ein Kleidungsstück oder einen anderen Gebrauchsgegenstand, der mit einem oder einer Heiligen in Verbindung steht.  
 
Und dann passiert Ihnen etwas Unvorstellbares: Die Dose aus Elfenbein fällt Ihnen aus der Hand, zerschmettert auf dem Boden – kurzum, sie ist kaputt. Fluchen Sie? Ich stelle mir das jedenfalls so vor. Leider hatte ich selbst nie Latein, zweckdienliche Hinweise zu lateinischen Flüchen sind aber herzlich willkommen, vor allem solche, die angebracht sind, wenn man das Allerheiligste einer Kirche auf dem Boden zerschmettern lässt. 
 
Sie entscheiden, die Dose – oder Pyxis, wie der Fachbegriff lautet – zu bestatten, immerhin enthielt sie eine Reliquie und ist deshalb wohl selbst als heilig anzusehen. Sie landet im selben Marmorschrein, in dem sie sich auch in intaktem Zustand bereits befunden hat, in einer Seitenkapelle der Kirche unter einem Altar, und Sie bzw. vermutlich eher Ihre Nachfahren lassen sie dort auch liegen, als sie die Siedlung auf dem Burgbichl um das Jahr 610 verlassen. 
 
Das Jahr 550 ist fiktiv, ein genaues Jahr lässt sich heute nicht mehr bestimmen. Aber so oder so ähnlich dürfte sich die Geschichte zugetragen haben – und sie hat dem Archäologen Gerald Grabherr und seinem Team einen der aufsehenerregendsten Funde der Geschichte der Innsbrucker Archäologie beschert. Seit 2016 führt er jeden Sommer mit einem Team aus Archäolog:innen Ausgrabungen auf dem Burgbichl durch, und vor zwei Jahren, am letzten Tag der Grabungsarbeiten 2022, hat einer seiner Mitarbeiter ebenjenen Marmorschrein gefunden, in dem die beschädigte Pyxis lag.
Gerald Grabherr hat mich erstmals im Winter 2022 kontaktiert, etwa ein halbes Jahr nach dem Fund, um eine möglichst öffentlichkeitswirksame Präsentation des Funds zu besprechen. Ihn und Restauratorin Ulrike Töchterle habe ich damals relativ rasch in der Restaurierungswerkstatt getroffen, der Marmorschrein lagerte in einem Kühlschrank in der Werkstatt unter kontrollierten Bedingungen und wir haben darüber gesprochen, evtl. im Herbst 2023 soweit zu sein, das ganze präsentieren zu können. Nun hat es doch ein wenig länger gedauert: Eineinhalb Jahre nach dem ersten Treffen, einen Umzug – das Institut für Archäologien ist vor knapp einem Jahr ins neue Ágnes-Heller-Haus gezogen – und einige elfenbeinbedingt graue Haare bei Restauratorin Ulrike Töchterle später konnten wir die Pyxis am Dienstag nun endlich einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren.  
 
Der lange Vorlauf liegt nicht zuletzt am Material, aus dem die Pyxis besteht: Elfenbein nimmt Feuchtigkeit auf und ist dann sehr weich und leicht zu beschädigen. Unkontrolliertes Austrocknen führt schlimmstenfalls zu Schrumpfungen und Rissen und damit zu Schäden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, hat mir Töchterle erklärt. Das Ergebnis, eine nunmehr für weitere Untersuchungen konservierte Elfenbeinpyxis, kann sich aber sehen lassen: Die Pyxis zeigt außen mehrere Szenen aus der Bibel, zum Beispiel die Übergabe der Zehn Gebote von Gott an Moses oder – vermutlich – die Himmelfahrt Christi. 
 
Die eineinhalb Jahre seit dem Fund hatten aber einen großen Vorteil: Unser Video-Experte Udo Haefeker hatte ausreichend Zeit, eine fast einstündige Video-Dokumentation zu drehen und zu schneiden. Zu diesem Zweck – und auch einfach, weil ich sowohl den Reliquienfund als auch die Grabung wahnsinnig spannend finde – war ich letztes Jahr selbst mit ihm auf dem Burgbichl in Irschen. Das hätte damals übrigens Stoff genug für einen eigenen Newsletter gegeben, wir hatten uns aber bis zur Präsentation eisernes Schweigen auferlegt und über die Ausgrabung zu schwärmen, ohne die eigentliche Sensation zu erwähnen, war uns am Ende etwas zu kurz gegriffen. Umso schöner ist es nun, den spektakulären Fund in die Welt zu tragen, zahlreiche Medien haben seit der offiziellen Präsentation bei einer Pressekonferenz am Dienstag diese Woche schon berichtet. Die Dokumentation ist in jedem Fall sehr gelungen; am besten, Sie lehnen sich zurück, holen sich Chips oder Popcorn und lassen sich die ganze Geschichte ausführlich erzählen.
War zu Beginn noch unklar, ob nicht auch eine Reliquie im Marmorschrein enthalten ist, gehen die Archäolog:innen inzwischen relativ eindeutig vom oben geschilderten Zerschmetter-Szenario aus, also davon, dass die Pyxis bereits in zerbrochenem Zustand und ohne Reliquie in den Marmorschrein gegeben wurde und nicht natürlich in den 1.500 Jahren seither zerfallen ist. Dafür spricht, dass die Teile recht „unsortiert“ im Marmorquader enthalten waren, der Boden zum Beispiel mittig statt ganz unten, und dass einige Fragmente auch fehlen. Eine klitzekleine Möglichkeit für eine Reliquie existiert allerdings noch: Holzteile, die ebenfalls im Marmorschrein gelegen sind, sind noch nicht endgültig identifiziert. Vielleicht haben wir es doch mit dem Kreuz Christi oder einer anderen hölzernen Reliquie zu tun – sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass das Holz Teil des Schlosses der Pyxis war. 
 
All diese Spekulation ändert aber natürlich nichts an der archäologischen und kunsthistorischen Bedeutung des Funds: Nur rund 40 derartiger Pyxiden sind weltweit bekannt, in archäologischem Kontext ausgegraben wurde zuletzt vor rund 100 Jahren eine. Und sollte sich bestätigen, dass die Himmelfahrt Christi auf der Pyxis zu sehen ist, wäre ihre Darstellung mit einem von zwei Pferden gezogenen Wagen ebenfalls praktisch einzigartig.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende – wenn Sie Zeit haben, schauen Sie sich die Dokumentation an, es lohnt sich sehr! 
 
Stefan Hohenwarter 
Kommunikationsteam der Universität Innsbruck 
 
PS: Apropos Pyxis: Im gleichnamigen Sternbild hat der Innsbrucker Astronom Ronald Weinberger, inzwischen im Ruhestand, 1995 eine galaktische Kostbarkeit gefunden – nämlich einen bis dahin unbekannten Kugelsternhaufen. Doppelte Pyxis-Funde sozusagen, einmal unter der Erde vergraben, einmal fast 30 Jahre früher und weit von ihr entfernt.
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